Sonntag, 11. Dezember 2016

Der Neue

„Der sieht eigentlich ganz gut aus. Graue Haare, na, ja, das Übliche hier im Haus. Aber ein erstklassiger Haarschnitt. Auch die Klamotten, bestimmt teuer.“ Susanne legte ihren Kopf schief und hielt den Neuen fest im Auge. Er saß ein paar Tische entfernt, konnte die positive Beurteilung also nicht hören. Gerda hatte ihr schweigend zugestimmt und nickte immer noch mit dem Kopf. War sie so begeistert?
„Das finden auch andere hier im Haus. Habt ihr mitgekriegt, wie sie sich in der Cafeteria recken und strecken, um ihn an ihren Tisch zu bekommen?“ Auch Johanna hielt den Neuen fest im Auge, er war aber auch wirklich ein angenehmer Anblick.
„Ja klar, aber meistens geht er vorbei und setzt sich allein an einen Tisch. Soweit, dass sich Frau Meier einfach an seinen Tisch setzt, ist es ja noch nicht gekommen.“ Margret hatte keinen Blick auf den Tisch des Neuen, wusste aber anscheinend, dass Frau Meier besonders interessiert war.
„Der trau ich das auch gar nicht zu, eher schon Frau Müller, die hatte doch auch den Dicken von Haus B fest in ihre Hand bekommen. Schade nur, dass er …“ Gerdas Kopf nickte schon wieder - traurige Wahrheiten wurden selten ausgesprochen in der coolen Seniorenresidenz.
„Ja stimmt, sie bemutterte ihn ständig, ekelhaft.“ Susanne.
„Aber ihm wird’s wohl gefallen haben, sonst hätte er sich schon eher dünne gemacht – der Dicke.“ Elvira lachte schallend über ihren Witz, allerdings blieb sie damit allein. Sie war noch neu in diesem Kreis älterer Damen, die sich ab und zu zusammensetzten. Auch, um sich über Nachbarn und Nachbarinnen auszutauschen. Jetzt mischte sich Irmtraud ein, der Mittelpunkt dieser Runde.
„Was Frau Meier betrifft, so hat sie übrigens die Betreuung seiner Zimmerpflanzen übernommen. Das duldet er, weil er viel zu faul ist, sie selbst zu pflegen.“ Die anderen sahen sich schweigend an. Wie immer, Irmtraud wusste mehr. Sie genoss die Situation.
„Frau Müller ist noch nicht zum Zuge gekommen, obwohl sie schon zwei Mal mit einem Piccolo und zwei Gläsern vor seiner Wohnung gestanden hat. Auf ihr mehrfaches Klingeln hat er zwar geöffnet, die Einladung zum Sekt aber abgelehnt. Tür zu und Schluss.“
Peinlich, fanden alle. Tsss, tsss und Kopfschütteln.
„Wer übrigens auch sehr interessiert ist“, Irmtraud machte eine Kunstpause und blickte in die Runde, dann nahm sie Susanne aufs Korn und lächelte maliziös. „Irgendwer möchte sich mit ihm über die Schönheiten Gran Canarias austauschen.“ Stille. Alle wussten Bescheid.
Susanne holte tief Luft, und:“ Und das erzählt er dir wohl, wenn du ihm jeden Morgen deine Zeitung zu bringst?“


Wenn Blicke töten könnten.

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