Samstag, 19. November 2016

Kur mit Schatten

Versonnen blickt Johanna aus dem Fenster, hinaus in den Garten, der fast ein Park ist. Ihr Blick schweift über die gepflegten Wege, den Rasen, die Blumenrabatten hin zum kleinen Blauen See. Die Kur in diesem Haus hat sie verdient. Zwar wohnt es sich auch im Haus am Kirchberg sehr gut und komfortabel, aber ein wenig Abwechslung hin und wieder muss sein. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, es ist vier Uhr.
Ihr Entschluss ist gefasst, sie ist ganz ruhig. Ihre rechte Hand gleitet in die Tasche des schneeweißen Bademantels, ja sie sind da, die Tabletten. Noch ein paar tiefe Atemzüge, dann greift sie zum Glas, um es endlich leer zu trinken. Das grüne Zeug schmeckt ekelhaft -  soll aber gesund sein.
Die Liegestühle in der elegant ausgestatteten Halle mit den großen Fenstern sind sämtlich noch besetzt, ein weißer Bademantel neben dem anderen, darüber blonde, schwarze und graue Köpfe. Johannas Blick bleibt auf Kunigunde haften, so hat sie sie selbst genannt. Zu ihrer Nachbarin gewandt:
„Sehen Sie sich das an: Operationen, Ersatzteile, Kosmetik, Friseur und ein eiserner Wille halten das Ganze zusammen.“ Ihre Nachbarin kichert und ergänzt: „Und natürlich ein Bankkonto als Grundlage.“
Dieses Bankkonto ist nach Johannas Vermutung der Grund, warum Doktor Eisenbart – auch eine private Namensgebung – dieser Dame so viel Aufmerksamkeit schenkt. Bis zur Ankunft Kunigundes war sie selbst Objekt seiner Schmeicheleien gewesen. „Und unser guter Doktor betet den Mammon an.“ So bestätigte die Nachbarin ihre These. Beide lächeln einvernehmlich, Johanna etwas verkniffen. Sie greift noch einmal nach den Tabletten: Die muss weg.
Etwas mühsam erhebt sie sich dann aus ihrem Liegestuhl, versucht trotzdem eine elegante Pose – Doktor Eisenbart steht am Eingang, an ihm muss sie vorbei, wenn sie zu ihrer Suite will.
„Johanna, Sie verlassen vorzeitig den Ruheraum? Das gefällt mir gar nicht. Sie brauchen diese Erholungsphase.“ Der Doktor lächelt Johanna an, ganz so wie früher, denkt sie.
„Ach, lassen Sie mich, die harten Stühle hier, das passt mir nicht“, sagt Johanna.
„Unsere Prinzessin auf der Erbse.„
Vor der Tür des Ruheraums kommt sie an dem Regal vorbei, an dem sich die Damen bedienen, wenn sie herunterkommen zur Ruhephase. Die Fächer sind mit Namen versehen und enthalten die täglich wechselnden Gesundheitstränke. Viele murren darüber, aber Doktor Eisenbart geht mit gutem Beispiel voran, auch sein Glas steht im Regal. Jetzt ist alles leer, die Damen ruhen ja schon.


Gegen elf Uhr am nächsten Morgen ist Johanna ganz erschöpft von all den Behandlungen, die sie schon hat über sich ergehen lassen müssen. Oder hat sie sie genossen? Das fragt sie sich, während sie in aller Ruhe die Kapseln zerschneidet, die das Fingerhutpräparat enthalten. Sie will nicht länger zusehen, wie Eisenbart Kunigunde hofiert. Ob sie ihn zurückgewinnt, das ist ihr eigentlich gleichgültig – aber Kunigunde muss weg, jedenfalls so lange, wie ihr eigener Aufenthalt hier im Haus noch dauern wird. Aus einer Serviette bastelt sich Johanna ein Tütchen, es muss ja schnell gehen beim Einfüllen des Giftes in Kunigundes Becher. Sie hat es schon ein paar Mal geübt mit Zucker und ist jetzt sicher, dass es klappen wird.

Es ist acht Uhr am Abend, Johanna macht einen kleinen Spaziergang im Park. Dabei hat sie den Eingang zum Haus am Blauen See im Auge. Sie wartet auf den roten Wagen mit dem Martinshorn, ihr Pülverchen muss doch allmählich Wirkung zeigen. In Eile und im Halbdunkel hatte sie ihr Tütchen geleert. Später hatte sie gesehen, dass alle Gläser leer waren. Auch das von Eisenbart, vorbildlich von ihm, dass er auch von dem Sud trinkt. Sie wartet vergebens. Nein, nicht wirklich vergebens: Ein schwarzes Auto fährt vor. Zwei schwarzgekleidete Herren tragen etwas, was aus der Entfernung wie ein Sarg aussieht. Es ist ein Sarg. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchfließt Johannas alten Körper, sie muss sich setzen. Das hatte sie nicht zu hoffen gewagt. Ein längerer Krankenhausaufenthalt hätte ihr genügt. Aber wieso gibt es keine Polizei im Haus? Eigentlich keine Frage. Doktor Eisenbart kann sich dergleichen nicht leisten. Der Totenschein wird auf Herzversagen lauten. Und stimmt das nicht auch?

Johanna unternimmt einen Morgenspaziergang im Park. Es wimmelt von weißen Bademänteln, dazwischen die rosa Kostümchen der Schwestern, die die ein wenig gebrechlicheren Damen begleiten. Eigentlich so etwas wie ein Altenheim, nur besseres Essen und bessere Zimmer, denkt Johanna.
Man begegnet sich, man nickt sich zu, man ist ja so positiv trotz aller Beschwerden. Aber irgendetwas ist anders als sonst, die Stimmung scheint gedrückt, vor allem bei den Schwestern. Ja, irgendetwas war schon heute Morgen anders, die Visite hatte der Jungspund, so Johannas Namensgebung, übernommen.
Johanna strebt zu einer Bank, von der aus man über den kleinen See blicken kann. Leider sitzt schon jemand dort. Johanna erstarrt. Bleibt stehen. Ringt nach Luft. Unmöglich: Kunigunde. Wer lag gestern Abend im Sarg?

 

Freitag, 4. November 2016

Der Tote in unserem Garten


Die Sonne schien und lockte Johanna auf den Balkon hinaus. Sie erfreute sich an der Bepflanzung ihres Blumenkastens, drei strahlend gelbe Stiefmütterchen eingebettet in dicke Tannenzweige. Sah hübsch aus und war preiswert gewesen. Sie blickte hinunter in den Garten, der das Haus umgab und überprüfte dabei, was ihre Nachbarn auf den Balkonen gepflanzt hatten: Längst nicht so schlicht und schön wie bei ihr.
Unten im Garten hatte der Gärtner schon wieder etwas herumliegen lassen, einen Sack Erde wahrscheinlich, sehr groß. Direkt unter der Weide. Zu sehen war er nicht. Man sah ihn nur zusammen mit seiner Motorkarre, das heißt, er saß drauf und verärgerte alle Nachbarn durch seinen Lärm. Jetzt war nichts zu hören. Sollte der Sack da über Nacht liegenbleiben?
Telefon im Wohnzimmer: Gerda. „Geh mal auf den Balkon und sieh dir das an, jetzt schlafen die Penner schon in unserem Garten.“
„Penner, in unserem Garten? Wie meinst du das?“
„Ja, geh mal raus und sieh es dir an, der Kerl liegt schon seit Stunden da.“
„Ach was, ich habe auch was gesehen, das ist ein Sack Erde, den der grobe Klotz hat liegen lassen.“
„Meinst du? Ich halte das für einen Mann in einem braunen Mantel.“
Johanna strich ihre weißen Haare aus dem Gesicht, ging wieder auf den Balkon und guckte. Diesmal angestrengt. Der Sack oder der Penner hatte sich nicht bewegt. Mussten sie etwas tun?
„Gerda, ich erkenne ehrlich gesagt nicht, was das da unten ist, halte es immer noch für einen Sack mit Erde. Aber müssen wir nicht was unternehmen, wenn es wirklich ein Mensch ist?“
„Ach was, lass den Kerl ausschlafen, dann wird er schon wieder verschwinden.“
„Aber es wird gleich dunkel und es wird gleich kalt werden. Wenn dann etwas passiert, sind wir schuld, unterlassene Hilfeleistung heißt das.“
„Wir müssen es ja niemand erzählen, dass wir was gesehen haben“, sagte Gerda und versetzte Johanna damit in Erstaunen. Gerda war doch immer sehr korrekt gewesen.  Nicht nur das, sie ließ auch anderen keine Unkorrektheiten durchgehen.  Und nun so etwas.
„Aber Gerda“, sagte sie nur, hatte eigentlich auch keine Lust, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie trennten sich, leichte Verstimmung auf beiden Seiten.


Johanna legte den Hörer auf, machte sich einen Becher Tee und wollte jetzt endlich ihr Buch hochnehmen und lesen. Aber. Aber ein Gedanke saß in ihrem Kopf: Und wenn es doch ein Mensch wäre, der da unter der Weide lag? Vielleicht. Vielleicht war das sogar eine Leiche. Hier stockte Johanna. Ließ ihren Thriller sinken, er fiel ihr vor die Füße. Warum las sie auch solche Sachen. Da passierten die unmöglichsten Dinge. Und kurbelten die Fantasie an. Sie ging noch einmal auf den Balkon: Der Sack lag noch da. Oder die Leiche. Ob sie hinuntergehen sollte um nachzusehen? Aber nein, es wurde schon dämmrig. Und sie war alt und ein bisschen wacklig auf den Beinen. Das war eine gute Entschuldigung. Und außerdem – wenn er sowieso schon tot war?

Der nächste Morgen war trüb, sehr trüb. Im Garten waren viele rotweiße Bänder gespannt, Menschen in Uniformen oder weißen Anzügen hatten zu tun. Jetzt nahm Johanna ihren Gehstock, der im Schirmständer steckte, und ging hinunter. Sie musste Gewissheit haben, was da los war. Menschen standen herum, wussten vieles zu erzählen. Kinder hatten auf ihrem Schulweg einen Toten gefunden. Wer war das? Niemand wusste das. Der Mann war in den Graben gefallen – und gestorben. So erzählten es die Gaffer. Johanna schluckte. In ihrer Magengegend rumorte es, sie schluckte wieder und wieder. Sie – hätte – helfen – können. Er musste noch gelebt haben, war aufgestanden und dann in den Graben gefallen. Und sie hatte nichts getan. Aus Gleichgültigkeit. Sie wagte es nicht, sich umzusehen. Es war auch nicht mehr viel zu sehen. Die Leiche war abtransportiert worden.

Später am Tag gingen Polizeibeamte von Wohnung zu Wohnung und fragten, ob man irgendetwas gesehen hätte. Zu Johanna kam ein junger Beamter, der sich als Kommissar Lutz vorstellte. Johanna hatte sich inzwischen von ihren Gewissensbissen erholt und antwortete auf seine Fragen, ohne über die gestrigen Beobachtungen zu sprechen. Der Kommissar sprach von einem Toten, der im Graben gefunden worden war. Wie und wann er gestorben war, darüber sprach er natürlich nicht und Johanna hatte auch keine Lust zu fragen. Er bat sie, mit ihm auf den Balkon zu gehen, was sie auch tat. Er wollte ihr wohl beweisen, dass sie etwas hätte sehen müssen.
Johanna wagte es kaum, die Stelle unter der Weide zu suchen, auf der gestern der Mann gelegen hatte. Dieser Stelle näherte sich jetzt der dicke Gärtner mit seiner lauten Karre, stellte den Motor ab, stieg von der Karre, bückte sich - hob den Sack auf und verschwand.